Stilblüten

3.7.2012, Cordula Seger

Geschmackssachen

Da jede und jeder wohnt, fühlen sich die meisten auf diesem Feld als Spezialisten, und wer es sich leisten kann, baut seinen eigenen Wohntraum. Vom Nachbarn setzt man sich mit der Bemerkung ab: «Das wäre nicht mein Geschmack.» Doch es stellt sich die Frage, wo beginnt der Geschmack in der Architektur?

Vieles ist Geschmackssache, so etwa ob Sie lieber Marcel Proust oder Milena Moser lesen, Abenteuergeschichten lieben oder gerne in Biographien schmökern. Voraussetzung, um Ihrem Geschmack zu huldigen, ist jedoch, dass Sie lesen können. Auch wenn Sie eine Freundin nach dem Lieblingsbuch fragen, gehen Sie selbstverständlich davon aus, dass diese liest und versteht, schon Verschiedenes gelesen hat, einen gewissen Überblick geniesst, vergleichend ihre Auswahl trifft und vielleicht gar einen Tipp geben kann.

Ganz anders aber sieht es mit der Architektur aus. Auch hier ist man überzeugt, dass etwa dieses bunte Haus mit Giebel, temperamentvoll interpretiertem Sgraffito, das Altholz und Trichterfenster fantasievoll kombiniert, ganz einfach Geschmackssache sei. Doch vergisst man, erst zu lesen und zu verstehen, dann zu urteilen. Denn auch Häuser lassen sich entziffern. Aus Kindertagen erinnert man sich, dass zu einem richtigen Haus ein schräges Dach, ein Kamin, mindestens drei Fenster und eine Tür gehören. Was also sagt uns ein Haus, das keine eigentliche Haustür mehr hat, dafür ein übergrosses Garagentor? Die Antwort könnte lauten: Die Bewohner lieben Autos, sie gehen selten zu Fuss, Gäste sind nicht willkommen, hier lebt man gerne mobil und anonym. Oder was erzählt mir ein riesiges Fenster? Vielleicht, dass die Aussicht seit 150 Jahren Motor der touristischen Entwicklung ist, dass der moderne Mensch seit den 1920er Jahren Licht und Luft braucht, um glücklich zu sein oder ganz einfach: Ich kann mir Grösse leisten, weil ich nichts zu verbergen habe und genügend Platz besitze, um den Schrank anderswohin zu stellen. Und wie beim richtigen Lesen ist es auch hier, Übung ist alles.

Sie sind also unterwegs, warten auf den Bus und haben kein Buch zur Hand? Lesen Sie das Haus gegenüber, Sie werden sehen, Lesen macht süchtig. Doch seien Sie vorgewarnt, bald schon werden Sie über Bauten stolpern, die vergessen haben, dass auch der banalste Satz ein konjugiertes Verb braucht und nicht nur Füllwörter. Sie werden sich amüsieren wie über die verdreht übersetzten Anleitungen am Geldautomaten im Ausland und wissen dann: Das ist keine Frage des Geschmacks, sondern nur der Grammatik.