Foto Michael Peuckert
 
 

Engadin Stilblüten

11.11.2013, Cordula Seger

Im Engadin lässt sich leben?

Wer sich im «Unterland» bewegt, kommt immer einmal wieder in die Versuchung, darzulegen, weshalb er oder sie im Engadin lebt. Dort Ferien zu machen, können sich die meisten vorstellen, was aber heisst es, im Engadin zu wohnen? ––

Der Artikel erschien am 31. Oktober 2013 in der online-Zeitung «il chardun» erstmals auf Romanisch unter dem Titel «As po que propi viver in Engiadina?»

Kürzlich war ich in Zürich zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Lauter Menschen im gleichen Alter mit gleichen Interessen. Ein Spanferkel brutzelte am Spiess, es gab Musik, und in kleinen Gruppen wurde geplaudert. Unser Gespräch war anregend, das Thema kreiste um das kreative Chaos, das Kinder und Beruf, Alltag und Leben mit sich bringen. Da fiel die Frage: «Und in welchem Quartier wohnst Du?» – «Ich wohne nicht in Zürich, ich lebe im Engadin.» – Schweigen, das selbst die Musik übertönte. – Dann: «Lässt sich im Engadin leben?»

Wer sich über die Berge vorwagt, ist öfters mit dieser oder ähnlichen Fragen konfrontiert. Niemand äussert Erstaunen, wenn jemand in Zürich, Genf oder Basel wohnt. Selbst Chur oder St. Gallen nimmt man als selbstverständlich hin. Doch wer im Engadin lebt, wird hinterfragt oder, positiv betrachtet, weckt Neugier. Diese Neugier von aussen drängt einen umgekehrt dazu, sich zu vergegenwärtigen, was man am Engadin mag. Dabei fühlt man sich vielleicht an Max Frisch erinnert und an seinen vielschichtigen Fragebogen, den er 1971 zum Thema Heimat entwickelt hat. Seine Frage 6 lautet nämlich: «Was lieben Sie an ihrer Heimat besonders?» Als mögliche Antworten schlägt Frisch etwa vor b) «dass Ihnen die Leute ähnlich sind in ihren Gewohnheiten, d.h. dass Sie sich den Leuten angepasst haben und daher auf Einverständnis rechnen können?» oder d) «dass Sie dort ohne Fremdsprache auskommen».

Und, wie so oft, fällt einem die passende Antwort zu unverhofften Partyfragen erst im Nachhinein ein. Meine würde lauten: Im Engadin lässt sich gut leben, weil hier viele verschiedene Meinungen und Lebensvorstellungen aufeinanderprallen, man sich täglich zumindest mit einer Fremdsprache behelfen muss und alles, was man sich wünscht, selber tun muss, dafür aber viel bewirken kann. Die Auseinandersetzung mit dem Nicht-Gleichen macht das Engadin zu einer besonderen Heimat.

http://www.ilchardun.ch/frameset.html