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10.5.2012, cs

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und gestaunt

Der Kunsthistoriker Peter Meyer hat seine «Stilkunde» zu Beginn der 1940er Jahre für ein breites Publikum geschrieben und sich seinem Thema mit Distanz und Weitblick genähert. Unten stehende Gedanken zum Architekturwettbewerb als Flucht vor der ästhetischen Verantwortung des Kollektivs sind heute noch immer aktuell. Dient der Architekturwettbewerb ratlosen Politikerinnen und Politiker doch oft genug als unverbindliche ästhetische Ideenbörse, und wenn’s dem Volk nicht gefällt, hat man auch gleich einen Schuldigen zur Hand – den Architekten.

Peter Meyer: Schweizerische Stilkunde. Von der Vorzeit bis zur Gegenwart, Zürich 1944, S. 215–216

«Es hat zur Lockerung und Verwilderung der Stilformen entscheidend beigetragen, daß hinter allen diesen Bauten [Bahnhöfe, Postgebäude, Amtshäuser, etc.; C.S.] überhaupt kein persönlicher Bauherr mehr steht, geschweige denn eine geschlossene Gesellschaftsschicht mit einheitlichem Geschmack, die dem Architekten auch das ästhetische Programm hätte vorschreiben können. Die anonyme Bauherrschaft war höchstens in der Lage, das Programm des materiellen Raumbedarfs aufzustellen, über die ästhetische Seite hatte sie überhaupt keine Meinung. Man nahm deshalb seine Zuflucht zu architektonischen Wettbewerben, mit denen die Verantwortung für das Aesthetische dem Berufsstand der Architekten zugeschoben wurde: mochte der Fachmann zusehen, wie er damit zu Schlag kam. Damit wurde die stilistische Seite der Bauten in einem zuvor unbekannten Maß vom privaten Geschmack und beruflichen Ehrgeiz der einzelnen Architekten abhängig, und das führte zur Ueberbetonung des künstlerischen Elementes, die seit den siebziger Jahren [1870er Jahren] allen Bauten sowohl traditionalistischer wie modernistischer Richtung anhaftet. Jedes Bauwerk mit noch so alltäglicher Zweckbestimmung wurde mit einem Aufwand an Formen und einer Bedeutsamkeit ausgestattet, wie sie nur für Ausnahmebauten gerechtfertigt wäre. Jedes Wohnhaus bemühte sich, in erster Linie das Originalgenie seines Erbauers zu manifestieren, indem es sich möglichst augenfällig von allen Nachbarbauten unterschied. Das mochte im Einzelfall gut oder schlecht gemacht sein, auch im ersteren Fall war das Gesamtergebnis jene babylonische Sprachverwirrung des stilistischen Gesamtcharakteres, wie sie besonders auffällig in den Villenvierteln der modernen Großstädte zu sehen ist, wo dem Talent des einzelnen Architekten größerer Spielraum gelassen ist als in den innerstädtischen Quartieren. Daran hat sich bis auf den heutigen Tag nichts Wesentliches geändert, denn so etwa Siedlungen unter einheitlichem Plan erbaut wurden, da ist diese stilistische Einheitlichkeit eben das Ergebnis der straffen Zentralisierung und nicht die freiwillige und organische Einheitlichkeit eines wirklichen Kollektivgeschmacks.»